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Freiwillig. Stark!
Unsere Portraitserie "Freiwillig. Stark! Ehrenamt in Rostock – Gemeinsam für mehr Miteinander."
Ein Leben in Extremen
Rosita Mewis leitet ehrenamtlich den Landesverband Autismus M-V e.V. und hilft betroffenen Eltern mit der Diagnose umzugehen
„Du musst mein Felsen sein, mich verteidigen, mich führen. Kannst du mich lieben für das, was ich bin, ohne ein Wenn oder aber? Wenn ja, dann werden wir sehen, wie weit wir kommen können.“ Ellen Notbohm hat einen Ratgeber geschrieben – für Eltern, deren Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung haben. In zehn Kapiteln beschreibt Notbohm zehn zentrale Besonderheiten autistischer Kinder. „10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten“, gehört zu den führenden Ratgebern in der Autismus-Community und ist auch für Rosita Mewis keine unbekannte Literatur. Als ehrenamtliche Vorsitzende vom Landesverband Autismus M-V e.V. weiß sie um die Besonderheiten und Herausforderungen, denen Familien ausgesetzt sind, in denen Autismus eine Rolle spielt. Merkmale des frühkindlichen Autismus können bereits vor dem 3. Lebensjahr auftreten. Sie werden unter anderem sichtbar im sozialen Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation oder im Ausleben stereotypischer Verhaltensweisen.
Der Landesverband Autismus M-V e.V. besteht seit 15 Jahren. Er hat sich aus zwei Selbsthilfegruppen gegründet. Seit 2020 stehen dem Verband Fördermittel für eine Beratungsstelle zur Verfügung. Die Selbsthilfegruppe in Rostock war einer der ersten Treffen für Eltern, bei deren Kindern Autismus festgestellt oder bei deren Kindern ein Verdacht auf Autismus geäußert wurde. Nachdem die Selbsthilfegruppe zuletzt rund ein Jahr ruhen musste, hat sie sich nun neu zusammengefunden. Einmal im Monat treffen sich Eltern, um sich auszutauschen, sich gegenseitig zuzuhören, um Trost und Rat zu finden. Roswita Mewes hat die Selbsthilfegruppe ein Jahrzehnt geleitet. „In erster Linie ist da die Ratlosigkeit bei den Eltern. Die Ratlosigkeit darüber, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen. Alles, was sie über Erziehung wussten, alle Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit mit anderen Kindern gesammelt haben, scheinen nichts mehr wert zu sein.“ Während einige erleichtert seien, endlich eine Diagnose zu haben, seien anderen tieftraurig darüber. Häufig seien die Eltern von Schuldgefühlen geplagt. Doch was alle gemeinsam haben: Sie kommen an ihre physischen und psychischen Grenzen.
Rosita Mewis ist selbst eine betroffene Mutter. Ihr Sohn hat Autismus. „Er hat mit Leidenschaft Glas zerschlagen, erst Flaschen und Gläser, später auch Auto- und Fensterscheiben. Wir hatten viele Jahre nur Plastikgeschirr Zuhause. Er hat aber auch gerne Bäume und Laternen umarmt oder Blumentöpfe ausgeschüttet. Durch unsere Reaktionen auf sein Verhalten, hat nur dazu geführt, dass sich sein Verhalten verstärkt hat.“ Die Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung leben, ist oft extrem. Und doch ist jedes Kind anders. „Oft verstehen die Eltern nicht, warum sich ihr Kind verhält, wie es sich verhält. Wichtig ist, sich ein Umfeld zu schaffen, das hilft“, weiß auch Katja Dabergott, Ansprechpartnerin in der Beratungs- und Koordinationsstelle des Landesverbandes Autismus Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist selbst Autistin, so wie ihr Sohn. Ihre eigene Diagnose erhielt sie vor zwei Jahren, als schon lange feststand, dass ihr Sohn betroffen ist. „Die ersten Probleme traten in der Grundschule auf. Irgendwann wollte mein Sohn nur noch Zuhause unterrichtet werden. Systemische Sozialtherapeuten haben uns geholfen, dass er einen Platz in der Flex Fernschule bekommt.“ Währen sich Katja Dabergotts Sohn auf der einen Seite zurückzog, entwickelte er ein gesteigertes Interesse für Züge. „Er ist sonntags immer Bahn gefahren und hat allen ganz stolz erzählt, er wird Lokführer. Das ist er dann auch geworden.“
Katja Dabergott & Rosita Mewis (v.l.)
Autismus äußert sich bei Jungen bzw. Männern anders als bei Mädchen bzw. Frauen. Bisher sind die Diagnosekriterien auf das männliche Geschlecht ausgerichtet. „Häufig ist die erste Diagnose bei Frauen Depression“, weiß Katja Dabergott. Erhebungen darüber, wie viele Menschen in Deutschland mit einer Autismus-Spektrum-Störung leben, gibt es bislang nicht. Vergleiche zu anderen Nationen lassen jedoch die Schlussfolgerung zu, dass es zirka 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung sind – Tendenz steigend. „Bestimmte Autismusformen werden sichtbar durch eine sich verändernde Gesellschaft, zum Beispiel durch stressige Lebensumstände. Betroffene reagieren auf Reize, Laute, Lichter. Sie brauchen festgelegte, übersichtliche Abläufe und keine Überraschungen im Alltag“, weiß Rosita Mewis.
Autismus hat einen hohen Erbfaktor. Aber auch erhöhter Stress in der Schwangerschaft kann eine Störung auslösen. Das Gehirn Betroffener ist anders strukturiert. Dabei liegt eine lebenslange komplexe Störung des zentralen Nervensystems zugrunde – insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung.
Damit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung ihre Fähigkeiten entfalten können, braucht es ein verständnisvolles Umfeld – auch auf Arbeitsebene, insbesondere auch deshalb, weil die soziale Interaktion für Betroffene eine große Herausforderung darstellt. Alltägliche Gesten wie eine beiläufige Berührung oder Veränderungen in der Mimik, beispielsweise durch Lächeln, sind für Menschen mit Autismus schwer zu deuten. Auch ironische Bemerkungen lassen sich nicht übersetzen.
„Autismus ist erst in den 1990er-Jahren ins Bewusstsein der Gesellschaft gerückt.“ Als betroffene Mutter hat sich Rosita Mewis intensiv mit der Entwicklungsstörung auseinandergesetzt. Für sie war immer klar, dass sie anderen Betroffenen helfen möchte und so organisierte sie früh Selbsthilfeangebote in Mecklenburg-Vorpommern. Aus den entstandenen Netzwerken entwickelte sich der Regionalverband Nord-Ost und 2009 der Landesverband Autismus M-V e.V. Für ihr langjähriges ehrenamtliches Engagement zur Inklusion von Menschen mit Autismus wurde Rosita Mewis 2023 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.